Ganz unten

    • Eines meiner ersten "echten" Bücher, hat mich sehr geprägt. Das Werk schildert, wie Günter Wallraff in der Rolle des Türken Levent (Ali) Sigirliolu (in späteren Ausgaben Sinirliolu genannt) in Deutschland verschiedene Arbeiten annimmt und dabei vielerorts Ausbeutung, Ausgrenzung, Missachtung und Hass erfährt.

      Wallraff schreibt im Vorwort zu seinem Buch, für das er ab März 1983 zwei Jahre lang recherchierte:

      „Sicher, ich war nicht wirklich ein Türke. Aber man muss sich verkleiden, um die Gesellschaft zu demaskieren, muss täuschen und sich verstellen, um die Wahrheit herauszufinden.
      Ich weiß immer noch nicht, wie ein Ausländer die täglichen Demütigungen, die Feindseligkeiten und den Hass verarbeitet. Aber ich weiß jetzt, was er zu ertragen hat und wie weit die Menschenverachtung in diesem Land gehen kann.
      Ein Stück Apartheid findet mitten unter uns statt – in unserer „Demokratie“.
      Die Erlebnisse haben alle meine Erwartungen übertroffen. In negativer Hinsicht. Ich habe mitten in der Bundesrepublik Zustände erlebt, wie sie eigentlich sonst nur in den Geschichtsbüchern über das 19. Jahrhundert beschrieben werden.“

      Wallraff muss als Ali Sinirliolu bei verschiedenen bekannten Unternehmen schwerste Arbeiten für geringe Stundenlöhne ausführen, unter Schikanierungen durch deutsche Kollegen, ohne Sicherheitsvorkehrungen, bisweilen ohne Papiere, Sozial- oder Krankenversicherung, nicht selten mehrere Schichten hintereinander. Wo deutsche Kollegen Schutzkleidung bekommen (zum Beispiel bei Kanalarbeiten bei Temperaturen unter Null Grad), erhält er keine; Wallraff schildert in diesem Zusammenhang auch, wie türkische Arbeiter in Atomkraftwerken bei ihren Tätigkeiten gefährlich hohe Strahlendosen in Kauf nehmen müssen. Viele haben kaum eine Chance, sich gegen solche Unmenschlichkeiten zu wehren, halten sie sich doch illegal in Deutschland auf oder stehen vor der Ausweisung. Der Autor berichtet von sich selbst, seine Gesundheit sei noch lange Zeit nach den Recherchearbeiten durch die Tätigkeiten, die er als Ali Sinirliolu, wenn auch nur kurzzeitig durchführen musste, stark angegriffen gewesen.

      Nicht nur auf seinen verschiedenen Arbeitsstellen, auch im täglichen Leben, selbst wenn er fließend Deutsch spricht und selbst noch wenn er bei einem Fußballspiel der Deutschen Nationalmannschaft gegen die Türkei nur die deutschen Spieler anfeuert, muss Wallraff mit seinem südländischen Erscheinungsbild Demütigungen wie „Sieg heil“-, „Deutschland den Deutschen“- und „Türken raus“-Anfeindungen ertragen, es werden ihm Zigaretten ins Haar geworfen und Biere über den Kopf gegossen.

      Aus seinem Inhalt erklärt sich die Titelwendung des Buches, die mit „ganz unten“ die Grauzonen der bundesdeutschen Arbeitswelt, in denen Wallraff recherchiert, meint, wo es (dem Klappentext der Erstausgabe folgend) „vom Arbeitsmarkt zum Sklavenmarkt nur ein Schritt ist, wo Arbeit tödlich werden kann und der Mensch aufhört, Mitmensch zu sein“, aber auch die unterste Stufe in der Hierarchie einer Gesellschaft.
      Aufbau [Bearbeiten]

      Das reportageartige Buch beinhaltet dreizehn Kapitel. In diesen gibt Wallraff seinen Erfahrungsbericht wieder; in Unterkapiteln, welche die großen Abschnitte weiter unterteilen, flicht der Autor immer wieder Erlebnisse und Biografien anderer Kollegen ein, die mal als Erzählung in der Erzählung, mal als dialogische Gesprächswiedergabe erscheinen. Zudem collagiert Wallraff deutlich abgesetzt vom ansonsten nie verlassenen Bericht Alis/Wallraffs ergänzende Sachinformationen liefernde nüchterne Berichte in den Verlauf seines Textes mit ein.

      Seine Wut und sein Unglauben, über das, was er erlebt, nutzt Wallraff den gesamten Text hindurch als Stilmittel, um den Leser auf seine Seite zu ziehen oder zumindest Empathie für sein Anliegen zu wecken. Dies gelingt ihm letztlich durch die moralische Überlegenheit, die er durch den eigenen unbequemen Rollenwechsel erwirbt.
      Ausgaben [Bearbeiten]

      Nach der Erstausgabe, die mit einer Prozessflut (unter anderem einer Unterlassungsklage von Thyssen) bedacht wurde, erschienen mehrere überarbeitete Neuauflagen, in denen bis dahin unveröffentlichtes Recherchematerial gestrichene Passagen auffüllte; seit 1988 erscheint Ganz unten „Mit einer Dokumentation der Folgen” im Anhang. Das Buch wurde in 30 Sprachen übersetzt; der deutsche Verlag Kiepenheuer & Witsch publizierte neben der Originalausgabe auch eine türkischsprachige Ausgabe. Ganz unten erschien auch in der DDR in mehreren Auflagen.
      Wirkung [Bearbeiten]
      Günter Wallraff in einer Podiumsdiskussion bei den Jugendmedientagen 2006

      Ganz unten brachte seinem Autor Beschimpfungen, wie „sozialistischer Hetzer” und „Nestbeschmutzer”, Bespitzelungen und Klagen ein. Unbestreitbar ist, dass die Erfahrungsberichte Wallraffs als Türke Ali weite Teile der deutschen Gesellschaft aufgerüttelt haben: Ganz unten hatte sich in den ersten sechs Wochen nach seinem Erscheinen bereits 1,6 Millionen Mal verkauft. Auch leitet das dem Investigativjournalismus zuzurechnende Werk ein generelles Umdenken der Deutschen in Bezug auf die Behandlung von in Deutschland lebenden und arbeitenden Menschen fremdländischer Abstammung ein. Gleichsam politische Auswirkungen hatte das Buch in Bezug auf das mit ihm bekanntwerdende Procedere der Subunternehmer: Gesetzgebung und Sicherheitsbestimmungen wurden in diesem Zusammenhang verschärft.

      In der Arbeitswelt folgte die feste Einstellung vieler Leiharbeiter, zumindest bei Thyssen.

      Auf der anderen Seite hat Ganz unten mit seiner einseitig-drastischen Darstellung auch neue Vorurteile gegenüber Türken in Deutschland geschaffen bzw. verstärkt, zum Beispiel indem das Buch sie generell in eine Opferrolle drängte. In diesem Zusammenhang rückte schlechtes Gewissen und von Mitleid geprägtes Wohlwollen in den Vordergrund im Umgang der Deutschen mit türkischen Migranten. Die Schriftstellerin Aysel Özakin bemängelte 1986 in einem Zeitschriftenartikel auch die instrumentalisierende Verwendung des „Türken” in Ganz unten um ein spezielles Anliegen zu transportieren und fragte: „Sind wir alle nur unterdrückt und naiv?” In der Tat zeichnet Wallraffs Werk nicht gerade ein differenziertes Bild türkischer Migranten, sondern unterstützt vielmehr die damals bereits vorherrschende trügerische Tendenz auf deutscher Seite, die erste Generation der türkischen Einwanderer als einförmige, womöglich gar wenig intellektuelle unbestimmte Masse wahrzunehmen. 1997 nahm in diesem Zusammenhang ein in der Türkei erschienenes Handbuch über die wichtigsten türkischstämmigen Unternehmer in Deutschland im Titel direkten Bezug auf Wallraffs Buch: En Üsttekiler (deutsch: „Die ganz oben”).
      Mein Herz schlägt für meine Mama &
    • Ich kann mich noch erinnern, als der Film zum Buch im Kino lief und was es damals für Diskussionen im TV gab.
      Den Film würde ich gerne mal sehen.
    • Das ist so sehr lange her, dass ich dieses Buch mal gelesen habe. Damals war ich über seine realen Studien sehr geschockt und fand es unmöglich, wie man Menschen ausbeuten kann. Ich sollte es vielleicht noch mal lesen.
      Drei Dinge sind unwiederbringlich:
      der vom Bogen abgeschossene Pfeil,
      das in Eile gesprochene Wort,
      die verpasste Gelegenheit.
      Ali der Löwe, Kalif des Islam
    • Das Buch ist nicht sehr lang, es liest sich so flott das man nicht merkt wie schnell die Zeit vergeht. Unbedingt Lesen!
      Mein Herz schlägt für meine Mama &