Garrincha

    • Er wird mit einem X- und einem O-Bein geboren, gilt als Krüppel. Mit zehn Jahren fängt er an zu trinken, am liebsten Cognac. Mit 25 wird er das erste Mal Weltmeister, vier Jahre später gewinnt er die WM zum zweiten Mal, wird Torschützenkönig und gilt als bester Spieler des Planeten. Die Rede ist von Garrincha, für viele Brasilianer noch vor Pelé der beste Fußballspieler aller Zeiten.

      Doch wer ist dieser Garrincha? Warum kennt ihn hierzulande kein Mensch, während er in Brasilien verehrt wird wie ein Heiliger? Ich persönlich habe ihn nie live spielen sehen, dafür bin ich zu jung. Doch die Geschichte dieses Mannes ist so faszinierend, begeisternd und tragisch zugleich, dass es fast schon ein Verbrechen ist, dass er hierzulande derart in Vergessenheit geraten ist. Geboren wird Manoel Francisco dos Santos am 28.10.1933 in Pau Grande, einem kleinen Dorf im Urwald von Brasilien. Das Baby ist behindert, seine Beine deformiert. Erst durch eine riskante Operation wird es ihm möglich, überhaupt gehen zu können. Dennoch bleibt es bei einer wundersamen Statur. Das linke Bein, ein O-Bein, ist sechs Zentimeter kleiner als das rechte X-Bein. Der Arzt rät ihm, seine Beine beim Fußball zu kräftigen. Dies tut er mit Freude und zeigt bereits in jungen Jahren sein außergewöhnliches Talent. Die Schule ist für ihn weniger wichtig. Und auch fürs Arbeiten ist er zu faul, er wird bei der örtlichen Textilfabrik entlassen. Garrincha will nicht arbeiten, er will Fußball spielen und das Leben genießen.

      Daher geht er mit 20 nach Rio, um bei Botafogo vorzuspielen. Der damalige Trainer soll bei seinem Anblick gesagt haben: "Jetzt schicken sie mir schon einen Krüppel." Doch Garrincha hinterlässt beim Probetraining bleibenden Eindruck, umdribbelt seine Gegenspieler wie Slalomstangen. Er tunnelt den damaligen Kapitän und Star der Mannschaft, Nilton Santos. Der sagt: "Mit dem Jungen kann man Weltmeister werden, weil er jede Defensivtaktik ad absurdum führt." Botafogo nimmt ihn auf und er verbringt dort fast sein ganzes Fußballerleben. Er wird von den Fans geliebt und erhält seinen Künstlernamen, Garrincha, ein brasilianischer Urwaldvogel. Es ist seine einzigartige Spielweise, die die Fans so verzaubert: Während man in Deutschland den Spielern oft vorwirft, sie spielten für die Galerie, ist es genau das, was die Brasilianer lieben: Einen Spieler, der lieber das riskante Dribbling als den einfachen Pass sucht. Einen Spieler, der sich traut alle möglichen Tricks auszuprobieren. Einen, der die Verteidiger düpieren und das Publikum begeistern will. Und genau das tut Garrincha. Er spielt für die Fans. Bei allen Zaubereien vergisst er aber auch das Toreschießen nicht und erzielt für einen Rechtsaußen fantastische 232 Tore in 581 Spielen.

      Aufgrund seiner guten Leistungen als Flügelstürmer spielt Garrincha 1955 erstmals für die Selecao. 1958 in Schweden gewinnt er in Brasiliens legendärem 4-2-4-System den Weltmeistertitel. Doch Garrincha gefällt es nicht im kalten Schweden, er soll den Trainer nach jedem Spiel gefragt haben, wann dieses Turnier denn nun endlich vorbei sei. Zum Abschied wird er gebeten, etwas ins Mikrofon sprechen. Er sagt: "Auf Wiedersehen, Mikrofon!"

      Die WM in Chile 1962 wird dann jedoch zu seinem Turnier: Pelé fällt schon früh verletzt aus, die Hoffnungen der Brasilianer ruhen auf ihrem krummbeinigen Helden. In einem Turnier, das von Defensivtaktiken und rüden Fouls geprägt war, ist Garrincha der einzige Lichtblick. Er führt Brasilien ins Finale, das mit 3:1 gegen die Tschechoslowakei gewonnen wird. Während des Turniers erzielt er vier Treffer, wird Torschützenkönig und zum Spieler des Turniers gewählt. Die chilenischen Zeitungen titeln am Tag nach dem Finalsieg: "Von welchem Planeten stammt er?" , eine Schlagzeile, die durchaus an einen kleinen Argentinier erinnert, der heutzutage die Massen begeistert.

      Umso erstaunlicher mutet es an, dass der einst große Fußballer und zweimalige Weltmeister in Europa derart in Vergessenheit geraten ist. Dies hängt wohl auch mit seinem tragischen Leben außerhalb des Platzes zusammen. Selbst zu seinen sportlich größten Zeiten war er Alkoholiker, kam auch nach fünf Entziehungskuren nicht von der Flasche los. Zudem war er Analphabet, galt als sehr naiv. Er ist ein tragisches Beispiel für jene Spieler, die nach der Karriere nicht so recht wissen, wohin mit ihrem Leben. Nachdem sein Körper bereits früh von vielen Verletzungen geschunden war, verließ er Botafogo im Alter von 32 Jahren. Danach versuchte er es immer mal wieder bei kleineren Vereinen, konnte jedoch nicht an seine Glanzzeiten anknüpfen und musste schließlich seine Karriere beenden. Doch die Fans hatten ihn nicht vergessen: Zu seinem Abschiedsspiel 1973 kamen noch einmal 131.000 Fans ins Maracana und zeigten ihre Liebe und Dankbarkeit für einen der größten Fußballer aller Zeiten.

      Nur zehn Jahre später starb Garrincha, verarmt und einsam, mit nur 49 Jahren an einer Alkoholvergiftung. Die letzten Jahre seines Lebens waren geprägt von privaten und finanziellen Problemen. Einmal musste er sogar für 90 Tage ins Gefängnis, da er den Unterhalt für seine 14 Kinder, die aus zwei Ehen und diversen Affären stammten, nicht mehr bezahlen konnte. Er hatte nichts als den Fußball, und als er nicht mehr Fußball spielen konnte, hatte er nur noch den Alkohol.

      Doch trotz oder gerade wegen seines tragischen Lebens ist er in Brasilien noch heute ein Held. Welch großartiger und gefeierter Spieler dieser Junge aus dem Urwald war, zeigt sich im brasilianischen Sprichwort: "Pelé wird respektiert, Garrincha geliebt."
      Garrincha war einer der ersten großen Stars des Fußballs. Er war, ähnlich wie Maradona, neben dem Platz für viele Skandale und Eskapaden gut - normalerweise im Zusammenhang mit Frauen und Alkohol. So verschuldete er sogar betrunken einen Autounfall, bei dem seine Schwiegermutter starb. Doch war sein Ruf damit ruiniert? überschatteten seine unrühmlichen Taten seine fantastischen Dribblings, seine tollen Tricks, seine wunderschönen Tore? Nein, die Fans haben ihn nie fallen gelassen. Sie vergaben ihm alles und bereiteten ihm nach seinem Tod einen würdigen Abschied: Tausende Fans begleiteten seinen Sarg. Die Prozession führte vom Maracana-Stadion in Rio bis in seine Heimatstadt Pau Grande. Der Verkehr stand still, doch das war an diesem Tag egal: Denn es zählte nur eines: Abschied nehmen von einem der größten Spieler, die dieser Sport je gesehen hat. Abschied nehmen von einem der größten Helden Brasiliens. Abschied nehmen von Garrincha, Alegria do Povo – Garrincha, die Freude der Leute.
      Mein Herz schlägt für meine Mama &